Ups and Downs in Armenia

13.05   Tiblisi – Alaverde        120km, 1250

 

14.05   Alaverde – Dilijan       ↔ 80km ↕1550

 

15.05   Dilijan – Sevan            ↔ 40km ↕1000

 

16.05   Sevan – Camp 1          ↔ 80 km ↕1050

 

17.05   Camp 2                   ↔ 60 km ↕1300

 

18.05   Camp 3                   ↔ 50 km ↕960

 

19.05   Camp3 – Tatev           ↔ 85 km ↕1550

 

22.05   Tatev – Camp 4          ↔ 60 km ↕1300

 

23.05   Camp 4 – Meghri Pass                       ↔ 50 km ↕1970

 

24.05   Meghri Pass – Agarak und Tabris      ↔ 50 km ↓1500!! (+ ~200km Bus)

 

 

 

 

 

Wenn Georgien der Balkon Europas ist, klettert man in Armenien schon übers Geländer. Ich sitze auf dem Balkon meiner Unterkunft, schaue auf den kleinen Garten und den Kuhstall, der Platz für 5 Kühe bietet und höre dem Regen zu, der auf die rostigen Wellblechdächer rauscht. Die ganze Nacht sind Gewitter über das Dorf gezogen, seit 10 Uhr abends gestern ist der Strom weg.

 

Von Tatev aus sind es Luftlinie keine 100km in den Iran, und in diese Richtung schaue ich jetzt unter den tiefhängenden Wolken entlang auf die Bergketten, die (wenig überraschend für Armenien) noch zwischen mir und der Grenze liegen. Da geht’s drüber und so ein bisschen habe ich tatsächlich das Gefühl am Rand des Balkons zu stehen, mit einer Hand am Geländer. Das klingt dramatischer als es ist – ich spring ja nicht, es ist eher eine Veranda und mit dem Iran kommt jetzt wieder viel Neues.

 

Tatev ist eines der touristischen Highlights von Armenien und wenn man die Reiseführer studiert, sind es in diesem Land fast ausschließlich Klöster und Kirchen die es zu bestaunen gibt, nebst einem einzigen verbliebenen hellenistischen Tempel und der Hauptstadt Yerevan. Für mich ist es aber in erster Linie die Kulisse aus schroffen Felsen, tief eingegrabenen Canyons, wilden Bächen in grünen Tälern, einsamen Dörfern, weiten Hochebenen und schneebedeckten Bergketten des kleinen Kaukasus, die das Land ausmachen.

 

Armenien gilt unter Radfahrern als Land, das dem noch so trainierten Sportler das Fürchten lehrt, Blogs ergehen sich in Superlativen und Horrorgeschichten kursieren: Nichts als Berge und unbarmherzige Anstiege auf miserablen Straßen, unbefestigt, Schotter, verschlaglocht wie Minenkrater. Die Abfahrten so steil, dass die Bremsen rauchen und kein Tag ohne einen der endlosen Pässe, über die das Rad im kleinesten Gang heraufkriechen muss. Routen, die auch dem allerhärtesten Radfanatiker den Willen brechen und keine alternativen Straßen, über die man sich zumindest mal einen Tag von den Strapazen erholen könnte; so liest man das. Aber so schlimm ist es nicht. Richtig ist, dass kein Tag ohne Pass möglich zu sein scheint, richtig ist auch, dass die Straßen teilweise verheerend sind und mit ein bisschen rauf und ein bisschen runter ist es wirklich nicht getan. Gleichzeitig ziehen die unterschiedlichen Landschaften förmlich ins Unwegsame und die Neugier, was in dem Nebental an neuen Blickwinkeln und Ansichten wartet ist dann doch größer als die Sorge vor dem Anstieg. So schlimm kanns also nicht sein, aber durchaus so schön. Wenn man fernab der meisten Dörfer und Städte bleibt.

 

Nachdem ich Tiblisi verlassen habe, ein paar Stunden vorher hat im Morgengrauen ein Taxi Gülnaz Richtung Flughafen abgeholt und bis zum Aufbruch habe ich mich schlecht gelaunt mit Packen beschäftigt, fahre ich -raus aus der Stadt - entlang an dem Fluß und die Sowjetblocks werden mehr. Ich bin keine 10km gefahren, da hat mich das Navi auf einen Bahndamm dirigiert, zum Glück fährt ein Zug hier gerade 1 x pro Tag, über 1km schiebe ich das Rad so über die Brücke, die über den Fluss Kura führt. Wenn jetzt der Zug käme, kann ich immerhin noch in den Fluss springen – eine Werbung für Komoot ist das auch nicht.

 

Die Strecke steigt an und führt durch Prärie, der Verkehr nervt, die Sonne brennt und auf den Feldern werden Erdbeeren geerntet, am Straßenrand verkauft – kübelweise. Ungewaschen aber möglicherweise der direkte Weg zu Tagen in Kauerhaltung über unerfreulichen Aborten.   

 

Nach der armenischen Grenze taucht die Straße in ein Tal, ein reißender Bach gurgelt braun durch die Schlucht. Mit Neugier verfolge ich in jedem neuen Land die ersten Kilometer in Hinsicht auf den Straßenbelag und jedes Land hat seine eigene Handschrift: Hier Spurrillen – bevor in diesem Land der Asphalt erneuert wird, kommt ein Straßen-Hobel und zieht den in die Jahre gekommenen Straßenbelag gerade. Im Ergebnis bleiben tiefe Straßenrillen, die einem das Gefühl geben auf Schienen zu fahren, aber immerhin: Asphalt. Noch.

 

Auch in den Läden merkt man den Unterschied zwischen den Ländern – einerseits ist das Angebot hier nochmal spärlicher, andererseits bin ich sprachlich wieder zurück auf Null, weil man in Armenien komplett anders schreibt als in Georgien – aber genauso wenig verständlich: Im 5. Jhd AD hat ein Mönch, Mesrop Maschtoz, die Schrift erfunden. Damals, so belauschte ich eine deutschsprachige Begleiterin einer Besuchertruppe, gab es – so sprach sie - 23 Schriften, die parallel im Einsatz waren… Alles war deshalb schwierig: Handel, Ausbildung und die Übersetzung der Bibel – und da hat der schlaue Mönch kurzerhand eine weitere erfunden – die genialer Weise mit keiner anderen auch nur im Entferntesten verwandt war. Tatsächlich und erstaunlich hat sich diese dann Schrift durchgesetzt. Ulunuluru tulunul lullulnurul -  so sieht das Schriftbild ungefähr aus. Klingt natürlich komplett anders, aber wenn ich in eine neue Stadt komme lese ich unwillkürlich das Ortschild und denke: Aha: „Urululnu“

 

In Wirklichkeit heißt die Stadt Alaverde: 120 km bin ich geradelt – ich hab nach Zeltplätzen Ausschau gehalten, aber in dem steilen Tal war außer ein paar schlammigen Parkbuchten nichts Geeignetes am Straßenrand aufgetaucht. Die App „iOverlander“ hat nach dem Open Source Prinzip Lebensmittelgeschäfte, Campgrounds, nette Hotels, Apotheken und Wasserstellen, Werkstätten und andere Orte des Verlangens von low budget Reisenden zusammengetragen. Aber auch iOverlander findet nichts, außer eine kleine Pension in Alaverde. Dann halt die.

 

Alaverde hört sich so nach grün und Portugal an, nach schindelgedeckten Steinhäusern und Olivenhainen, frisches Obst, klaren Weißwein und dem Duft von Oregano und Thymian. Auf einem bequemen Stuhl die Abendsonne genießen, während in der Küche die Auberginen gegrillt werden. Alaverde ist stattdessen eine ehemalige russische Grubensiedlung – hier wurde irgendwas abgebaut, Mineralien, Erze – was weiß ich. In der Folge deshalb Steinbrüche, Stollen, Kamine. Zerfallende Betonkästen, rostende Eisenkonstruktionen, eingeknickte Masten und Überreste von Baumaschinen. Dazwischen Blocks um dem Proletariat angemessenen Wohnraum zu bieten. In dieser kleinräumigen Schlucht mit dem tobenden Wasser und den grünen Steilhängen, ist das ein sehr grausiger Kontrast. Und nix isses mit gegrillten Auberginen, nebst gekühlten Getränken. Zu der Unterkunft führt eine Steilrampe, selbst im Zickzack komme ich irgendwann keinen Meter mehr weiter – und schiebend auch nicht. Was für ein Scheiß. Da wo die Unterkunft angezeigt wird ist natürlich nichts, was auf eine Unterkunft verweisen würde. Und selbst wenn, das wäre nicht, wo ich unterkommen wollte. Irgendwelche abgeranzten Plattenbauten mit Donnerbalken im Hinterhof – zwei alte Schachteln in einem Laden schauen erst fragend und fragen dann russisch und ich versteh kein Wort. Jedesmal dieses Elend.

 

Eine der beiden Alten tippselt was auf ihrem Nokiaknochen und dann kommt tatsächlich eine jüngere Frau, um mir mitzuteilen, dass ihr Hostel einerseits noch weiter oben wäre, andererseits ausgebucht. Ausgebucht war in den vergangenen Monaten noch nie irgendwas… und wer in Gottes Namen will hier Urlaub machen? … immerhin kann sie mich in einem anderen Hotel unterbringen – tatsächlich ein imposanter Block mit 100 Zimmern, ich bin der einzige Gast (so kenne ich das). Auf die Frage wo hier ein Restaurant sei, beginnt der einzige Hotelangestellte in sein Telefon zu plappern, mir gibt er zu verstehen: no Problem, food come. Bestellung oder was ich vielleicht wollen würde, spielt keine wirkliche Rolle. So sitze ich auf den Steinstufen, warte auf das was da kommen mag und sehe in den postsowjetischen Irrsinn plus tatsächlich ein bisschen die Abendsonne.

 

Der Weg am nächsten Tag führt aus dem Canyon. Lange bin ich neben dem Fluss und einer super schön und romantisch in den Hang gelegten Bahnstrecke entlanggefahren. Auf dieser Linie könnte man tatsächlich von Tiflis nach Yerevan fahren – an jedem zweiten Tag fährt ein Bummelzug entweder in die eine oder die andere Richtung. Von jetzt an geht es hoch – erst Richtung Vanadsor, die 3. größte Stadt des Landes, aber an sich ein verblasener Haufen von Wohnblocks die unmotiviert in diesen Talkessel gebaut wurden, einigermaßen steil, ich versorge mich mit Süssigkeiten für den nächsten Anstieg, die Landschaft wechselt erneut und es sieht aus wie in den Alpen, saftige Wiesen, glückliche Kühe, blühende Kirschen, so geht es über einen kleinen Pass und ich hab 16km und 1000 Meter zum runterrollen nach Dilijan: die Schweiz Armeniens, aber da ziehen sich die Armenier einen großen Schuh an. Mit so ein paar traditionellen Häusern und bewaldeten Hängen bist Du noch lange nicht die Schweiz. Aber es ist natürlich erfreulich, dass hier mal nicht der Architekturbrutalismus durchgepflügt hat. Entlang der Hauptstraße ziehen sich kleine 2 stöckige Häuser mit bescheidenen Balkönchen und Schnitzereien. Von Dorfzentrum führt eine kleine Straße in Serpentinen den Gegenhang hoch, hier unten sollte die Unterkunft sein, die bewusst ausgesucht war, um nahe an diesem kleinen Zentrum zu sein, einer kleinen Bar und tatsächlich ist das alles ganz gemütlich. Statt der Unterkunft aber ein Schild, dass die Unterkunft lediglich 500 Meter weiter den Berg hoch liegt, das hübsche kleine Häuschen in der ich mein Bett erhofft habe bewohnt ein grantiger Alter, der es vermutlich auch leid hat, jeden Tag  mehrfach den Weg zur Dili Villa zu erläutern, irgendwas unfreundliches brüllt er aus dem Hof und seine Scheißtöle kläfft sich in Rage – aus den 500 Metern wird ein Kilometer und bis ich endlich oben bin ist es zu spät für Besichtigungen. 10 Euro sind so wenig hier nicht und die die Hütte, die ich zum Schlafen bekomme, ist am untersten Rand des Akzeptablen, das Bad ist eine Baustelle und mich ärgert es, wenn ich jeden Abend eine biblische Herbergssuche veranstalten muss, nur weil eine Adresse im Dorfzentrum attraktiver eine und man so auf den Zustrom unwissend buchender Touris hoffen kann. Aber wenn man seine Hütte als windschief hingeschustertes Heimerkergesellenstück am Dorfrand bewirbt kommt, natürlich auch keiner. Dilijan mag ganz hübsch sein, aber gesehen hab ich nicht viel, weil es inzwischen dunkel ist.

 

Von Dilijan geht es über den nächsten Pass nach Sewan – der Sewan-See liegt auf 2000 Metern ist umstanden von erloschenen Vulkanen. Mit jeder Serpentine ändert sich die Vegetation und zum gefühlt 100sten Mal fahre ich aus dem Sommer zurück in den Frühling und Spätwinter, wenn oben am Pass der letzte Schnee schmilzt. Und jedesmal wieder ist es schön aus den dichten Wäldern aufzutauchen und auf weiten Wiesen mit blühenden Bäumen und Büschen Richtung Schnee zu radeln. Mit einem Blick zurück sieht man in das Tal tief unten und die Kehren der Straße, die sich den Hang hochziehen. Auf der gegenüberliegenden Hangseite werden gerade die Buchen grün und alles leuchtet. Der Sewan-See ist einer der Hauptattraktionen Armeniens und wenn man das erste Mal über den Pass auf das Wasser sieht, in dem sich die Berge spiegeln, ist das tatsächlich großartig. Der See ist riesig und auf der Südseite erheben sich die nächsten Bergketten, über die man klettern muss Richtung Iran. Der Pass ist hier eine Hochebene und die Bauern, die hier oben ihre Kühe versorgen haben ein hartes Leben. Die Häuser sind ärmlich und ausgeweidete Karossen säumen den Weg – alles was aus so einem Auto zu verwenden ist, Sitze, Motor, Tankdeckel, wird weiterverwendet, selbst die Türen finden eine letzte Berufung als Gartenzaun, was so ein bisschen nach Kunst aussieht in der kargen Landschaft, diese in den Boden gerammten Autotüren und Heckklappen, die die kleinen Gemüsegärten umstehen. In einem Innenhof steht ein alter Panzer. Ideales Kinderkletterparadies.

 

Ein Systemfehler des Reiseführer-Literatur-Betriebs ist die Leidenschaft der Autoren für das Land, das sie beschreiben. So fehlt jede kritische Einlassung – auch da wo sie angezeigt wäre. Man würde Armenien nicht wirklich Unrecht tun mit der Aussage, dass die Siedlungen zumindest mal herzlos sind. Immer dieselben schlichten und schmucklosen Steinhäuser aus dem immer selben gelbbraunen oder rotbraunen Steinziegeln, die in Hunderten von Steinsägen an den Straßen gefertigt werden. Dächer aus Wellblech und vieles entweder halbfertig oder schon wieder heruntergekommen. Es ist nicht fair, sich zu beschweren, über die Armut eines Landes, dem die Geschichte Jahrtausendelang übel mitgespielt hat. Armenien ist uralt und hatte seine Blüte früh, dann aber wurde es immer wieder geteilt und aufgelöst, verteilt und besetzt. Die armenische Kirche war lange Zeit das einzige einende Element der verstreuten Armenier und in ihrem Stammland, dem Osten der heutigen Türkei mit deren heiligen Berg Ararat und dem Van-See haben Anfang des letzten Jahrhunderts die Türken einen Genozid an den Armeniern zu verübt. Bis heute geleugnet. Erdogan hat noch 2008 ein Denkmal zum Gedenken an die Opfer des Krieges gegen die Armenier abreißen lassen und Schriftsteller wie Orphan Pamuk wurden verurteilt, weil sie das Leid, das den Armeniern angetan wurden öffentlich anprangerten. Auch die Sowjet-Zeit hat das Land nicht zu verantworten. Will sagen: Kein Wunder, dass es hier nicht aussieht wie in der Schweiz.

 

Aber kann man das nicht auch schreiben? Muss man stattdessen selbst der Horrorsiedlung Sewan irreführenden Attribute zuschreiben: authentisch, charmant, ursprünglich? So ein kotzhässliches Dorf wie Sewan hat schon Seltenheitswert. Der Sewan See ist zugemüllt und die Ufer verbaut mit irgendwelchen Schuppen, wenn nicht gerade die Karossen alter russischer Laster in den Boden rosten oder andere Industriereste vor sich hin sedimentieren dürfen. Der See selbst – an sich tief und groß, zeigt deutliche Suren der vorsintflutlichen Abwasser-Philosophie der umliegenden Städte und Dörfer. So schön der Sewan See von weit weg ist, so deprimierend aus der Nähe. So viel Euphorie beim ersten Anblick, so viel Ernüchterung wenn man dann da ist. Von anderen Radlern habe ich aber gehört, dass der Weg über die Ostseite des Sees weniger verhunzt ist. Ich könnte jetzt noch in Romanstärke die Unterkunft in die Hölle schreiben und mir den Ärger vom Leib, über die Idioten von Lonely Planet, die den letzten Dreckswinkel noch als kulturtragende Sehenswürdigkeit preisen. So mies kann ein Hostel nicht sein, so runtergekommen und baufällig, dreckig und vernachlässigt, dass die in Liebe zum Land erblindeten Schreiberlinge keine Hosianna Gesänge erheben würden, … aber das spare ich mir jetzt. In ganz kurz kann man zusammenfassen: Fahret nicht nach Sewan. 

 

Am nächsten Tag treffe ich endlich wieder auf Sarah und Pedro, mein Campfire Cyclist Bekannten, die ich in der Türkei erstmals kennengelernt habe und mit denen ich durch Georgien gefahren bin. Bis an die Grenze zum Iran werden wir jetzt wieder gemeinsam unterwegs sein. Ich freue mich sehr. Wir treffen uns an einer Kirche, die sehr pittoresk auf einem Felsvorsprung über den Morgennebeln des Sees thront, und dann radeln wir weiter zu dritt. In einer Kleinstadt, ab vom Weg müssen wir Lebensmittel kaufen für die Tage in den Bergen und geraten in eine Schar von Schülern, die uns unbedingt ihr Klassenzimmer zeigen wollen. Der Weg zurück zum Weg ist so steinig und steil, dass uns die Dorfjugend helfen muss, die Räder den Schotterhang heraufzuschieben. Später nachmittags kommen wir am Südende des Sewan-Sees an und fahren zurück in die Berge. Zumal der See auf 1900m Höhe liegt sind wir schnell wieder an der Schneegrenze und finden einen abgelegenen Platz zum Zelten. Die Hänge rauf auf den Pass sind flächendeckend mit Plastiktüten übersäht – diese Tüten bekommt man in jedem Laden ungefragt aufgedrängt, jedes Gemüse, jede Wasserflasche, jede Packung Chips kommt in eine dieser Tüten und der Verweis auf die mitgeführten Jutebeutel oder Rucksäcke ruft Stirnrunzeln hervor und unser „No Plastic Bag“, wird so verständnislos wie gleichgültig hingenommen. Das Ergebnis dieser Plastiktütenkultur sieht man dann auch noch in den abgeschiedensten Ecken.

 

Bis nach Tatev ist es an sich noch ein Pass und ein Anstieg, aber die Sarah und Pedro zieht es nochmal in eine sehr entlegene Ecke – ein Extra-Tag mit einem fiesen Anstieg über einen Feldweg aber am Ende ist das egal, denn die Strecke ist wie so oft im Kaukasus wirklich atemberaubend schön. Das Thema ist schon immer dasselbe: Zwischen hohen und verschneiten Gipfeln, viele davon vulkanischen Ursprungs, liegen Hochebenen, in die sich tiefe Schluchten und Canyons eingeschnitten haben. In den Canyons rauschen die wilden Bäche ins Tal mit Wasserfällen und umspülten Felsen, alles sehr spektakulär und die Zeit vergeht und die Kilometer fliegen, wenn man an diesen Bächen entlang fährt auch wenn es dabei raufgeht. Über Serpentinen geht es dann auf die Hochebenen, die in der jahreszeitlichen Entwicklung noch mehr als einen Monat hinterherhängen mit Frühjahrsblumen und blühenden Büschen und Bäumen. Mit jedem Pass öffnen sich neue Landschaften und der Blick auf die nächste Bergkette ist immer wieder ein Erlebnis. Irgendwo da oben gibt es immer einen Zeltplatz, den wir versuchen so auszusuchen, dass man einerseits noch die untergehende Sonne sieht, andererseits auch von den ersten Sonnenstrahlen am Morgen getroffen wird – es ist so einfach schneller warm und der Becher Kaffee oder Tee ist nicht ganz so frostig.

 

Tatev ist auf einem Basaltsockel erbaut und sieht ansonsten aber nicht ganz anders aus als all die anderen Kirchen die hier in Armenien rumstehen. Die armenische apostolische Kirche geht zurück auf Judas Thaddäus und Bartholomäus, die bereits in der zweiten Hälfte des ersten Jh. hier gepredigt haben und dann natürlich auch den obligatorischen Märtyrertod gestorben sind – bereits im Jahr 301 ist Armenien christlich geworden – das erste Land überhaupt, dass das Christentum zur Staatsreligion erhoben hat. Dies hat unter dem König Trdat III stattgefunden, der zunächst aber lieber Christen verfolgen und ermorden ließ. Auch der Prediger Gregor wurde im Zuge der Christenverfolgung gefangen und in eine Grube geworfen um dort kläglich zu sterben – alleine sein Glauben und die Versenkung ins Gebet hielt ihm am Leben und als König Trdat in Folge der fortgesetzten Grausamkeiten an Christen seinen Verstand zu verlieren begann, war es der aus der Grube gehievte Gregor, der den König vom Wahnsinn heilen konnte. So ward der Tyrann bekehrt und das Christentum konnte seinen Siegeszug hier in Armenien beginnen – erst knapp 100 Jahre später haben die Römer nachgezogen. Eine andere Geschichte besagt, dass Gregor einem ausgehungerten Löwen vorgeworfen wurde, dieser aber vom Verzehr abgesehen hat – ein Wunder, dass die Armenier und deren Herrscher überzeugen konnte.

 

Im 9. Jhd wurde Tatev auf den Fundamenten eines anderen, unmodern gewordenen Heiligtums erbaut – ein Basaltblock bricht senkrecht über mehrere hundert Meter in einen Canyon ab, oben sitzt das Kloster. Heute sind da 3 Mönche, die zu zweit ihre Zeremonie abhalten und einer sieht zu. Früher, zu seiner Blütezeit zwischen 11-hundert und 13-hundert waren bis zu 1000 Mönche. Wenn man sich die Anlage ansieht fragt man sich schon, wie man die Kollegen gestapelt hat. Es war eine wichtige Universität und ein religiös kulturelles Zentrum der armenisch orthodoxen Kirche, die gelehrtesten Köpf haben hier vor sich hingesonnen und gelehrt. Bewaffnete Truppen benachbarter Emirate, die Seljuken und Timur Lane haben das Kloster in den Jahre 1044, 1170 und 1385, respectively, geplündert, geschleift oder abgebrannt – dazwischen gab es noch Erdbeben, … wie das Land so die Kirchen: Eine Geschichte oszillierend zwischen Zerstörung und Wiederaufbau.

Die armenisch orthodoxen Kirchen sehen sich alle ziemlich ähnlich, dunkel und schmucklos, ein kreuzförmiger Grundriss, eine zentrale Kuppel, ein orthodoxer Altarraum, Licht fällt aus wenigen, hoch oben in die Kuppel eingelassenen Fenster in den Raum. Um das Kloster führt eine Wehrmauer, auf den Mauern kann man rumklettern und so in die Schlucht runtersehen und ein bisschen Höhengrusel genießen. 2 Tage verbringe ich in Tatev, schlafe in einem Zimmer auf einem Bauernhof und zwei Tage sind mehr als diese Sehenswürdigkeit rechtfertigt – aber das Wetter ist grausig, es schüttet und schüttet. Zumindest bin ich im Trockenen und kann mit den beiden Kindern der Vermieter blödeln.

 

Von Tatev aus führt der Weg über zwei letzte Pässe an die iranische Grenze: 2 mal noch Campen wir, einmal pragmatisch, weil der Regen kommt und wir in der Minute mit dem Zeltaufbau fertig werden als das Gewitter losbricht. Später kochen wir mit frostigen Fingern ein schnelles Reislinsengemüsegericht und verschwinden wieder in unsere Zelte. Der nächste Tag wird ein Armenien-würdiger Ausklang mit knapp 2000 Höhenmetern und dem Meghri-Pass. Raus aus Armenien und an die iranische Grenze. Nach einem ewigen Anstieg, ein bisschen enttäuschend unaufregend, keine Felsen, keine Gletscher – stattdessen lästige Bremsen und Mücken; Buchen und Eichenwälder bis fast unter die Passhöhe auf 2250 Metern, zuletzt regnet es eisig. Armenien verabschiedet uns wenig herzlich und zeigt sich von seiner spröden Seite. Bis zum Pass ist es gerade noch ein Kilometer und der Anstieg ist quasi gemacht, da reißt es auf und ein Regenbogen überspannt das Tal zwischen zwei Gipfeln. Nie kann sich dieses Land entscheiden zwischen scheiße und super. Der Pass bietet dann einen Blick, für den man an sich Geld verlangen soll: Wolken und eine Götterdämmerung mit einzelnen Lichtstrahlen, die auf die Hänge und Felsen fallen – daneben Regen in dunklen Fahnen aus tiefen Wolken. Verbläuende Bergketten, schroff und karg, ausgewaschen, steil. Unten fließt der Grenzfluss und die grandiosen Gipfel sind alle schon auf der iranischen Seite. Einen letzten Zeltplatz haben wir auf einer natürlichen Plattform, da ist eine kleine Rangerstation und ich kann mein beschissenes Hilleberg Kackzelt unter dem Dach aufbauen – so kann es hoffentlich austrocknen vom Regen das Vorabends – auch von Innen. Ich werde bei Gelegenheit mal hier die Korrespondenz mit der Hilleberg Schnepfe veröffentlichen, deren Aufgabe es offensichtlich ist, unzufriedenen Kunden klarzumachen, dass Hilleberg  (THE Tentmaker) unfehlbar ist.

 

Der nächste Tag beginnt mit einer 1400 Meter Abfahrt, ein einziges Auto, eine Schlange und zwei Kühe sind die einzigen Hindernisse auf der tadellosen Straße. Die Grenze ist in einem Backofen Talkessel und wir werden gargekocht, während wir auf armenischer Seite warten, bis wir unser Rad über den Grenzfluß  Aras schieben dürfen. Auf der anderen Seite des Aras wartet die iranische Grenze.

 

Armenien ist in so vieler Hinsicht ein besonderes Land – so tragisch mit seiner Geschichte, so ermutigend mit seiner aktuellen politischen Situation, so erbärmlich und trostlos in den Städten und Siedlungen, aber unberührt und rau und vielfältig sobald man die Zivilisation hinter sich gelassen hat. So viel könnte man her machen, touristisch und sportlich. Ich hab so viel Freundlichkeit erlebt aber auch unangenehme Begegnungen gehabt. In wenigen Ländern war ich so oft euphorisch, weil es grandios, und kurz später ernsthaft deprimiert weil es so furchtbar war. Ziemlich dramatische Ups and Downs – so wie das Land.

 

 

 

Von der Grenze nach Sewan. Der Straßenzustand 20km nach der Grenze lässt merklich nach. Bahnfahren ginge auch. Im steten Bemühen aus Hängen Halden zu machen werden hier neben Möbeln, Müll und Haushaltselektronik ganze Autos über die Böschung geschubst. Serpentinen, Panzer im Vorgarten, Blick auf den See und Ernüchterung in der Stadt. Blüten und erstes Ergrünen von Buchen auf knapp 2000 m Höhe

Zwischen Sevan und Tatev: Typische Kirche, ein flügelloser Heuhupfer ... Biologen, aufgemerkt. Gerne die systematische Einordnung. Als hemimetabole natürlich möglicher Weise auch noch ein nicht adultes Stadium???? Super Landschaften, schöne Zeltplätze, eine echt geile Abfahrt über 1000 Meter, die man dann auch wieder rauf muss... Ladawerbung - Photo und armenische Schafffront. Regenbogen auf dem Weg nach Tatev

zuviel Landschaftsphotos? ... aber dann Tatev Kloster.

dem hab ich lange zugesehen.

das Schwein erkenne ich, aber der Käfer? Carabus irgendwas???? Lips? Hans? Sonstwer????

Der Weg über den Pass und dann die dramatische Änderung der Landschaft. Versöhnlicher Regenbogen auf der einen Seite und der Blick auf die grandiose Abfahrt am nächsten Tag. Radltraum! Campsite für Hillebergzelte: Indoor campen kommt als nächstes! Letzte Photos mit Sarah und Pedro, Flugstudie mit Hummel und unten im Tal ist es heiß, trocken und wären nicht irgendwelche seltsamen sowjetischen Überbleibsel wähnte man an sich schon im Iran.

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Kommentare: 5
  • #1

    Hans (Dienstag, 28 Mai 2019 21:01)

    Hallo Stef,

    mit dem Heuhupfer hast du mich, da bin ich raus. Aber bei deinem Käfer bist du mit Carabus glaub ich schon sehr richtig, wenn ich das richtig recherchiert habe, C. intricatus.
    Leider muss ich meine Kenntnisse, im Gegensatz zum Geburtstags-Lips, immer aus geübter Google - Suche und nicht aus meiner Biologen-Vergangenheit ziehen. Aber schau mal hier: https://de.wikipedia.org/wiki/Dunkelblauer_Laufkäfer

    Ich wünsch dir tolle, erzählenswerte Erlebnisse aus dem Iran, uns uns weiter so schöne Berichte und Bilder.

  • #2

    Thomas (Mittwoch, 29 Mai 2019 18:25)

    Hallo Stef,
    vielen Dank für die wunderbare Schilderung (ein Land das sich nicht zwischen Scheiße und grandios
    entscheiden kann. Herrlich!).
    Bin schon fleißig am planen für Georgien und Armenien.
    Weiterhin alles Gute.
    Thomas

  • #3

    Lips (Montag, 03 Juni 2019 18:49)

    So, lieber Stefan, nachdem du mich bei meiner Biologenehre gepackt hast, kommt hiermit doch noch mal ein kurzer Kommentar und zugleich das Eingeständnis meiner Unwissenheit.
    Die Schrecke kenn ich nicht.
    Nie gesehen und nicht mal den Hauch eines Schimmers.
    Könnte mir vorstellen, dass im Kaukasus einiges rumläuft, das bei uns einfach nicht vertreten ist.
    Beim Laufkäfer schließ ich mich voll und ganz dem Hans an.
    Einzig bei der Echse hab ich eine originäre Idee.
    Das könnte ein HADRUN sein.
    Die einzige Agamenart Südeuropas und des Nahen Ostens.
    Freu mich schon auf deine nächsten Rätsel und eine gute Reise weiterhin.

  • #4

    Michi (Sonntag, 23 Juni 2019 23:00)

    Hey Stef,
    so, ich klinke mich jetzt wieder in's blog lesen und kommentieren ein. Bei diesen grasigen Hochebenen bekommt man wirklich nostalgische Fernweh und aus sicherer Distanz wirken auch die Reste des Soviet-Reichs sehr atmosphärisch. Mit Hunger, kalten Finger und nassen Klamotten sieht's aber sicher wieder anders aus.
    Ich finde an Armenien ja so erstaunlich: Dass ganz hinten, wenn man durch die ganze Türkei gefahren ist, in der es Richtung Osten immer orientalischer wird, und man dann endlich am Ararat angekommen ist, wo die schwarz bekleideten Frauen aus dem Iran schon ein bisschen überschwappen ...dass dann plötzlich noch mal ein kleines, christliches Land kommt, das seinen Glauben starrsinnig in unerreichbaren (oder unattraktiven) Bergtälern verteidigt hat ist doch sehr unerwartet. Aber auch dass dieser Glaube uns genauso fremd ist wie der um die Ecke praktizierte Islam. Diese armenischen Kirchen stehen schon sehr eindrucksvoll auf kargen Berghöhen...aber nix Andechs oder Irschenberg.
    Erinnerst du dich an Ating in Zanzkar? Da gab's dann auch kein Kühles Bier unter Kastanienbäumen, wie es der Name suggerierte.

  • #5

    Michi (Sonntag, 23 Juni 2019 23:03)

    Aber die Passstraßen haben's mir schon angetan....ich will auch Höhenmeter fressen und der Verkehr scheint weniger dicht als auf der Glockner Hochalpenstraße...auch weniger Holländer.